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Vorsicht, dieser Text ist sehr lang, falls du nur liken möchtest, mach einfach, quer lesen lohnt nicht.

Wunder die Wirken
Das geheime Leben der Bäume
Warte nicht auf bessere Zeiten
Das Seelenleben der Tiere
Gegen den Hass
Das gab es früher nicht
Die Menschheit schafft sich ab
Alexander von Huboldt und die Erfindung der Natur
Meinen Hass bekommt ihr nicht
Sorge dich nicht Seele
Gelassenheit

Das sind 11 Titel aus den ersten 21 Sachbüchern in der Spiegel Bestseller Liste
Zumindest vom Titel passt Wolf Biermanns „Warte nicht auf bessere Zeiten“ mit in diese Gruppe.
Unzählige Artikel und Sonderhefte beschäftigen sich mit Depressionen, Burn-out, Ängsten.
Es scheint, als liege Deutschland auf der berühmten Couch.
In den Talkshows diskutieren sie über Populismus und woher er kommt, was die Menschen wohl dazu treibt, sich sehr einfachen Forderungen anzuschließen. Was macht den Menschen Angst?
Ich habe mir die Frage gestellt, und zwar mit einem Blick in den Spiegel.
Wie sieht mein Leben aus, was sind meine Gedanken, meine Lebensziele?
Gehe ich den Populisten dieser Welt auf den Leim, den Verschwörungstheoretikern, der Lügenpresse, den Lobbyisten, den fundamentalen Religionen?
Ich versuche einmal, die Titel der Bestseller in meine gefundenen Antworten mit einzubeziehen.
Seit der Erfindung der Natur gibt es Wunder, die wirken. Die Natur selbst ist das größte Wunder, zumindest erscheint es mir als solches. Das war in meinem Leben nicht immer so. Als Kind war ich der Natur verbunden, nahm kleine Dinge an ihr wahr. Spielte an Bachläufen, im Wald, beobachtete Ameisen, sicherlich nicht immer zur Freude der Tiere und Insekten. Ich hatte eine Art Ur-Gefühl gegenüber der Natur, alles hatte seine Zeit, seinen eigenen Geruch, seine Gesetzmäßigkeiten.
Im Laufe der Zeit ging mein Ur-Gefühl immer mehr verloren. Ich weiß noch, wie mein erstes Handy roch, ich weiß sogar noch die Nummer, meine jetzige weiß ich nicht mehr, ebenso wenig weiß ich noch, wie Hagebutten riechen, mit denen wir uns als Kinder beworfen haben. Meine Wahrnehmung hat sich verändert. Als ich in meinem Leben das erste Mal ins Ausland fuhr, nahm ich alles sehr genau auf, die Automaten mit den bunten Getränken an französischen Autobahnen, die Grillen die plötzlich an der Pariser Raststätte zu hören waren und den Duft der Pflanzen. Auf späteren Reisen, im Erwachsenenalter wurden diese Erfahrungen, diese Eindrücke immer weniger. Lag es am Alter oder an einer sich verändernden Lebensweise? Vieles von dem, mit dem ich mich jetzt täglich auseinandersetze, gab es früher nicht. Damals, im Physikunterricht, in der ersten Stuhlreihe erfanden Mitschüler Roland und ich das Handy. Es war nur in unserer Vorstellung, auf dem Markt kam es erst viel später. Früher gingen die Leute zum Protestieren auf die Straße, heute unterschreiben sie im Netz für oder gegen etwas. Ich möchte  die Zeiten nicht gegeneinander bewerten, die Vergangenheit war nicht besser und wir sollten nicht auf bessere Zeiten warten. Wir leben jetzt und können schauen, wie es uns geht. Meine Art der Wahrnehmung hat sich verändert, mein Leben ist gefühlt schneller geworden, Themen ziehen täglich an mir vorbei. An einem Thema festzuhalten fällt mir schwer. Ein Kollege meinte einmal, „wie, das hast du noch nicht gehört?“ , es war eine morgendliche Nachrichtenmeldung, welche ich gegen Mittag noch nicht wusste.
Und da haben wir Menschen, gegenüber Tieren, Insekten, Pflanzen möglicherweise einen Unterschied. Ich mache zurzeit einen Imkerkurs, die Bienen konzentrieren sich auf das Wesentliche, das Erhalten ihrer Art. Dumm sind sie nicht, die Bienchen, nach unseren menschlichen Maßstäben gemessen. Das für uns so geheime Leben der Bäume ist gar nicht geheim, es steht uns offen, es wahrzunehmen. Ob das Seelenleben der Tiere, der Bienen, der Pflanzen sich sorgt, weiß ich nicht, aber wenn, dann gehört die Sorge zum Leben. Warum sollten wir uns nicht sorgen? In jeder Sorge steckt eine Chance, zum Beispiel die, nicht auf bessere Zeiten zu warten. Die Sorge dient nicht dem Selbstzweck, sie dient dazu, über ein Thema nachzudenken, zu handeln.
Zum Beispiel über den Zustand, in dem wir uns zurzeit  befinden. Sorge sollte nicht verwechselt werden mit Angst, Angst lähmt uns möglicherweise, oder ruft Hass hervor. Gegen den Hass hilft in erster Linie Gelassenheit. Es hilft uns vielleicht, nicht immer die Internet Suchmaschinen zu bemühen, sondern in den Spiegel zu schauen, um Antworten auf unsere Fragen zu finden. Wir können den Spiegel auch anschreien und brüllen meinen Hass bekommst du nicht. Der Baum googelt nicht, er geht nicht konsumieren, um sich abzulenken, wächst nicht über seinen Schwerpunkt hinaus. Wir haben angefangen, irgendwann in unserer kurzen Menschheitsgeschichte uns der Natur überlegen zu fühlen, haben uns von ihr entfernt, wurden Mittelpunkt unserer Wahrnehmung. Es ist, als hätten wir den Draht zu Mutter und Vater verloren, als wir auszogen, die Welt zu erobern, doch je älter wir werden, fühlen wir die fehlende Geborgenheit und haben vergessen, was es war, was uns diese Geborgenheit gegeben hat. Wir sind ein Teil der Natur, wir sind nicht von einem anderen Planeten hier gelandet. Wir sind aus der Natur dieser Welt entstanden und gewachsen, also ein Teil von ihr. Mag sein, dass die Menschheit sich eines Tages abschafft, aber dann nur, weil es ein natürlicher Prozess war.
Um wieder von der Couch runter zu kommen, dürfen wir als Erstes unseren Spiegel bemühen, jeder für sich. Wir können uns gegenseitig erzählen, was wir dort gesehen haben.
Wir können es den Baum und den Ameisenhaufen berichten und dem Saatkrähenpärchen von nebenan. Im Frühling dürfen wir die Couch einmal gegen den Rasen austauschen, die Augen schließen und riechen. Dann können wir auch einmal in unserem Bürostuhl die Augen schließen und lauschen, was wir hören. Mehr Gelassenheit wäre schön, aber wir können sie nicht in Suchmaschinen finden, sie uns aus Selbsthilfebüchern anlesen. Gelassenheit tritt ein, wenn wir uns geborgen fühlen, in unserem Sein.
Die Natur hat uns nie verlassen, sie ist immer noch bei uns, wenn wir das spüren können, wirken Wunder, die im Grunde das Normalste dieser Welt sind. Wir können sie im Moment, durch unsere Lebensweise womöglich gerade nicht fühlen.
Das Problem ist, beim Blick in den Spiegel, klingelt unser Smartphone, wir merken, dass der Lippenstift nachgezogen werden muss und ein paar graue Haare mehr zu sehen sind.
Wieder zu uns selbst, zu Werten und Normen zu finden, welche uns menschlich machen, uns die Natürlichkeit der Dinge wieder sehen zu lassen, ist tatsächlich nicht einfach, aber machbar.
Bis dahin wird es weitere schöne Bestseller Titel gegeben. Populismus wird uns weiter davon abhalten wollen, in den Spiegel zu schauen.
In diesem Sinne noch einmal der Biermann: Warte nicht auf bessere Zeiten

2 Gedanken zu “Vorsicht Depression

  1. Ja, das Problem ist, dass wir einfach viel nicht mehr wahrnehmen können, weil wir so abgestumpft sind durch ständige, grelle Reize überall, durch die Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Lügen. Und das Traurige ist, um überhaupt damit klarzukommen, müssen wir uns ja dagegen „abpanzern“ (um mit Wilhelm Reich zu sprechen), wir können gar nicht anders. Statt echter Freude, aber auch Trauer oder Wut begegnet einem dann oft nur Zynismus und Bitterkeit, das ist ganz alltäglich. Damit entgeht unserer Wahrnehmung aber so viel, was es uns eigentlich ganz einfach machen würde, die Dinge besser zu verstehen und anders zu leben..

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  2. Ein sehr interessanter Artikel. Genau das ist das Fatale: Diese Entfremdung zur Natur, zu allem Ursprung, zu uns und unserer Existenz. Überlagert durch viele Reize, Süchte, Sinneseindrücke und Zwänge sind viele gar nicht mehr in der Lage, die Nähe zur Natur zu spüren. Gleichzeitig spüren viele die Leere in sich und versuchen sie mit Konsum, Suchtmitteln oder Selbsthilferatgebern zu füllen. Und sie schaffen dadurch noch mehr Leere in sich. Die Achtsamkeit und das Leben im Moment kann einzig die Lösung sein. Und hierbei hilft der Aufenthalt in der Natur.

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